(Fortsetzung von gestern)
„Ich denke, wir sollten den langsamen Teil der Fahrt beenden und uns zügig dem Dienst nach Vorschrift zuwenden. Ist doch schon ganz schön spät geworden.“, ergänzte die Queen. Ihre Nüstern zitterten nervös. „Vielleicht kannst du dich auch ein wenig um die Beschaffenheit des Wegs und der Umgebung kümmern, Kindl. Oder noch besser, du startest unseren himmlischen Höhenflug.“
Das Christkind war wohl zu sehr damit beschäftigt, den Geschenkeberg auf dem seit dem Szenenwechsel unruhig schwankenden Schlitten im Gleichgewicht zu halten, denn es reagierte in keiner Weise auf den Vorschlag der Queen. Das Brechen von Ästen unter näherkommenden schweren Tritten wurde lauter, das Grunzen steigerte sich zu einem gereizten, heftigen Schnauben. Hin und wieder funkelten schwarze Knopfaugen durch das Unterholz. Die Adelshäupter drehten nervös und in steigender Hektik ihre Hälse, um herauszufinden, was es mit dem eigenartigen Treiben auf sich hatte.
„Weißt du, was das ist, Kindl?“ — „Ich find’s durchaus gespenstisch.“ – „Wir sollten unbedingt duchstarten, bevor der Schlitten und seine Ladung Schaden nehmen!“
„Wildschweine – ich bin mir sicher, dass es eine Rotte Schwarzkittel ist, die wir mit unserer Fahrt aufgeschreckt haben. Meistens reagieren sie nicht sonderlich freundlich auf überraschende Störungen. Für Romantik haben sie meines Wissens auch nichts übrig. Wird wohl besser sein, wenn wir uns, wie ihr vorschlagt, sputen. Hier ist eine der Courierpeitschen, die in der Musikalischen Schlittenfahrt so kräftig schnalzen, lieber Weihnachtsmann. Vielleicht lässt du sie ordentlich über unseren Adelshäuptern knallen, um sie zu schnellerer Fahrt anzuspornen?“
Was war das denn?! Statt ihnen aus dieser Notlage zu helfen, regte das Christkind den Chef an, die Peitsche über Häuptern und Geweihen seiner in Jahrzehnten gereiften Edlen zischen zu lassen.
„Kindl – tu was!!“
„Sie kommen ständig näher, die ersten haben fast schon den Schlitten erreicht. Ein riesiger Eber führt die Rotte an. Legt euch ins Zeug!“ Im Stile eines Sensationsreporters berichtete das Christkind über die dramatischen Abläufe hinter dem Schlitten nach vorne zu den ins Schwitzen gekommenen Adelshäuptern.
Dann war nicht mehr auszumachen, ob das heftige Schnaufen von vorn oder das wilde Schnauben von hinten lauter war.
„Es hat keinen Sinn, ich breche gleich zusammen“, stöhnte die Queen. „Und außerdem sehe ich nichts mehr, weil mir meine Mascara in die Augen läuft!“
Lady Edelgunde blieb resigniert stehen und brachte damit das gesamte Gespann zu einem unkoordinierten Halt. Völlig verdattert ob dieser unerwarteten Wendung, rammte der Leiteber seine Hufe in den weißen Untergrund, was wiederum zu einer Vollbremsung seiner gesamten Rotte knapp hinter dem Schlitten führte.
„Ihr habt Recht, so kann’s nicht weitergehen. Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil! Was meint ihr, sollen wir King Irenäus sein Weihnachtsgeschenk auspacken lassen? Ich sehe keinen anderen Weg aus dieser Bredouille.“
War das Christkind komplett wahnsinnig geworden? Sie befanden sich in Lebensgefahr, bedroht von wilden, blutrünstigen Wildschweinen ohne Zahl, und das Kindl plauderte unbeschwert über das Auspacken des Weihnachtsgeschenks für den King! Ob der Weihnachtsmann über sein Smartphone einen dringlichen Notruf absetzen konnte? Aber bis Hilfe käme, wären sie alle längst Opfer dieser abstrusen Fahrt geworden. „Jahrhunderte alter Adel in der Weihnachtsnacht ausgerottet – das Christkind sah mitleidlos zu!“ zitierte Sir Quirin bitter die imaginäre Schlagzeile eines News-Tickers vom morgigen ersten Feiertag. Soweit sich das unter seinem dicken Fell beurteilen ließ, waren seine Wangen leichenblass.
„Nichts wie her damit, wenn es das ist, was ich mir gewünscht habe!“, übertönte plötzlich die Stimme des Kings das Zähneklappern der übrigen Adelshäupter sowie das Schnauben und ratlose Hufescharren der Schwarzkittel. Einem echten Heroen gleich, sprengte der King seine Zügel und stand Augenblicke später in einem vom Schlittenende heranfliegenden, makellos weißen, plissierten Hemd samt ärmelloser Weste und Jacket, einem wagemutig zwischen die Geweihstangen gedrückten Kunstwerk aus Barett und Krone sowie einem prachtvollen Kilt als noble Respektsperson neben dem Schlitten.
„Was für eine Erscheinung, wahrhaft royal!“
Die verschüttete Glorie der schottischen Freiheitskämpfe erfüllte King Irenäus. Mit dem alten Freiheitsgesang aus Prinz Bonnies Zeiten stürzte er, sich immer wieder aufrichtend und dabei heftig und bedrohlich mit den Armen rudernd, den Wildschweinen entgegen. Zumindest zwei, drei Schritte lang. Dann nahm Irenäus wahr, dass es dem kernigen Eber langsam zu dumm wurde mit den Faxen des bunten Hampelmanns vor ihm. Selbst wenn dessen Kopf ein beträchtliches Geweih zierte. Der Rottenführer leckte sich mit der feuchten Zunge über Lefzen und Schneidezähne, die einen gefährlichen Glanz annahmen, und spannte seine Muskeln unter hörbarem Knacken der Gelenke zur Gegenattacke. King Irenäus blickte hilflos auf seine leeren Hände: Er war ein Adelshaupt, nicht Herkules, der den Eber mit seinen bloßen Händen erwürgt hätte!
„Da, nimm und rette uns, oh Held!“ Das Kindl zog aus seiner es stets begleitenden, unerschöplichen Wolke ein gefährlich blitzendes langes Schwert hervor und ließ es auf unvergleichliche Weise in die angehobene Rechte des Kings gleiten.
„Uff, ein Zweihänder!“, stöhnte der King. Das mit der Spitze auf dem Boden stehende Schwert hatte sich auf sein energisches Hochreißen auch nicht einen Millimeter gerührt. Der King nahm seine Linke zu Hilfe, zog und zog. Nichts. Doch plötzlich flog das Schwert förmlich von selbst in die Höhe, hob den sich krampfhaft daran festklammernden King zu aufrechter Haltung. Der King warf dem Kindl einen fassungslosen Blick zu, den dieses mit einem siegreich emporgereckten Daumen beantwortete. „Ach, so ist das!“. Der King schluckte desillusioniert seinen kurz erwachten Stolz hinunter, trat dann aber aufgerichtet und mannhaft, mit hochgereckter Waffe der feindlichen Streitmacht entgegen. Die lange Klinge versandte ein furioses Blitzgewitter in die Augen der verschreckten Wildschweine. Die Irritation des Leitebers und seiner Gesellen wuchs mit jeder Sekunde: Sie waren die uneingeschränkten Herrscher in den deutsche Stangenwäldern – und nun zeigte sich urplötzlich ein namenloser Gegner, eine Art missratener Hirsch, mit einer magischen Waffe und drohte ihnen. Wut und Furcht führten in ihrem Inneren einen wilden Kampf. Schritt für Schritt, Huf um Huf wichen sie vor dem nachrückenden Fabelwesen zurück. Dann brach plötzlich ihr Widerstandswille in einem einzigen Augenblick zusammen, die Rotte floh in wilder Panik.
„Sieg!“ Leider stand Sir Quirin keine Standarte zur Verfügung, die er für den King hätte schwingen können. Aber das königliche Heldenspektakel, untermalt vom sich hektisch entfernenden Knacken zerbrechender Zweige, war auch so eindrucksvoll genug.
(Fortsetzung im morgigen Türchen)
Text: © Kili Riethmayer
Bilder: © Doris Lettmann
Für den Fall, dass Ihnen die Episode Spaß gemacht hat, finden Sie mehr von den Adelshäuptern, dem Weihnachtsmann und dem Kindl unter den nachstehenden Links:
Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010),
Schöne Bescherung (2011),
Die Überraschung (2012),
Das Weihnachtsessen (2013),
Aushilfskräfte (2014),
Der Herzenswunsch (2015),
Die Panne (2016) (Teil 1),
Die Panne (2016) (Teil 2),
Glühwein (2017) (Teil 1),
Glühwein (2017) (Teil 2),
Entzückend! (2018) (Teil 1),
Entzückend! (2018) (Teil 2),
Freue dich! (2019) (Teil 1),
Freue dich! (2019) (Teil 2),
Kumpels (2022) (Teil 1),
Kumpels (2022) (Teil 2),
Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 1),
Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 2),
Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 3),
Eine melodische Bescherung (2023) (Teil 4)