Vorbemerkung: Eigentlich ist es selbstverständlich, aber da in diesem Auszug die
Vorgeschichte fehlt, sei es sicherheitshalber angemerkt: Der Weihnachtsmann
- um dessen Schlittenfahrt es sich hier dreht - lässt natürlich sein
Gefährt nicht von gemeinen Rentieren ziehen, nein, es handelt sich um
auserlesene Adelshäupter: Die Queen, Lady Edelgunde, den King und Sir
Quirin. Über allen hält das Kindl, das Christkind, seine
schützende Hand.
Eine denkwürdige Schlittenfahrt
Der Weihnachtsmann blickte verträumt über das Lichtermeer von La Paz
hinweg, an dessen Bergende sie standen. Er hatte es dieses Jahr so
eingerichtet, dass dies die letzte Station ihrer Ausfahrt war. Hänge und
Tal schienen sich über und über mit den Lichtern von Straßenlaternen und
Häusern geschmückt zu haben.
„Wie ein gigantischer Weihnachtswald!” sagte der Weihnachtsmann. Und
sehnsüchtig fügte er hinzu:
„Meinst du nicht, Kindl, dass wir ... Ich habe dieses Jahr keinen einzigen
Glühwein getrunken ... es wäre ein gigantisches Weihnachtsgeschenk!”
Er verfolgte mit den Augen die breite, sich so elegant in die Hänge
schmiegende Stadt-Autobahn, ergänzte nicht sichtbare Teile, bis
sich das breite graue Band unten zwischen Hochhäusern, Kirchen und Wohnbauten
verlor.
„Diese Kurven!” Er schnalzte bewundernd. „Dazwischen die langen Geraden.
Insgesamt über 1000 Meter Höhenunterschied!”
Der Weihnachtsmann trennte wehmütig seinen Blick von der herrlichen Kulisse,
und hob seinen Fuß, um auf seinen alt-ehrwürdigen Schlitten
aufzusteigen. Als lächerliche Statue verharrte er mit
angezogenem Bein, den Mund weit geöffnet. Vor ihm glitzerte, dehnte und
streckte sich, einem gefährlichen Raubtier gleich, ein Bob „wie ihn die
Welt
noch nicht gesehen hat!”. Violett und Rot, mit
silberglitzernden Sternen gesprenkelt, vergoldeten Kufen, einem flotten Schriftzug
Weihnachtsmann Racing Team an den Seiten, und einer großen,
schwarzen Nummer 1 im
weißen Feld auf der Fronthaube. Vor dem Bob glänzte die gerade noch so farblose
Straße als kalt-blau verzauberte Eisrinne auf.
„Eins - zwei - drei - vier - fünf - sechs
Sitze! Du hast an alles gedacht!” jubelte der Weihnachtsmann dem Christkind
zu.
Das Christkind konnte ein Gefühl des Stolzes nicht ganz unterdrücken:
„Mit einem extra-breiten und
bequemen Sitz für den Steuermann. Wenn das auch die Windschnittigkeit
etwas reduziert.”
„Und einem kleinen, leicht hochgezogenen, für das Bremserlein. Du
übernimmst doch die Aufgabe, Kindl?”
„Wird wohl das beste sein!”
Die vier Adelshäupter blickten reichlich misstrauisch auf dieses
„neumodische Gelumpe”, das sich vor ihnen fand.
„Nicht einmal eine Deichsel!” nörgelte der King, „Wie soll man
da ziehen?”
„Ihr braucht zur Abwechslung nicht ziehen; nur kurz anschieben, dann springt
einer nach dem anderen in den Schlitten; der Rest geht von selbst - und
gigantisch bergab.”
„Das fürchte ich auch.” sagte Lady Edelgunde. „Kann ich vielleicht zu Fuß
nebenhergehen?”
Der Weihnachtsmann gönnte ihr kein Wort, lediglich einen vernichtenden
Blick. Er verteilte die Rentiere auf die Anschubpositionen, das Christkind
durfte bereits auf seinem Bremsersitz Platz nehmen. Ein letzter Blick
auf die Strecke, dann gab der Weihnachtsmann das Anschubkommando:
„Und eins - und zwei - und drei - und ab!”
Das Raubtier setzte sich in Bewegung, gewann dank der Dynamik der
Adelshäupter schnell an Fahrt, während sich der Weihnachtsmann bereits
nach dem zweiten Schritt auf seinen extra-breiten Sitz plumpsen ließ, nicht
ohne den geziemenden tierischen Schrei auszustoßen, den er von
Fernsehübertragungen her kannte. Als
ob sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht hätten als Bob zu fahren,
sprangen die Adelshäupter eines nach dem anderen auf ihre Plätze,
duckten sich in die Sitze.
Der vierfach geweihte Bob glitt auf die erste Kurve zu.
Dem Weihnachtsmann zuckte kurz der erschreckende Gedanke durch den Kopf,
dass sie keine Helme besaßen. Doch die Helmpflicht wäre bei den
Adelshäuptern unmöglich durchzusetzen gewesen:
Die Queen hätte sich kategorisch geweigert, ihr unvergleichliches
Kapotte-Hütchen durch etwas anderes zu ersetzen, Lady Edelgunde, ihre
dauergewellte Mähne zu verunzieren, der Sir hätte betont, dass sein Cox
mindestens die gleiche Sicherheit biete wie ein Helm, und der King
ohne Krone - undenkbar.
Die erste Kurve! Ein wenig schwankend und trudelnd
erwischte sie der Weihnachtsmann, die Kufen erzeugten schauerliche
Geräusche, aber er brachte seinen neuen Schlitten
heraus, auf die nächste Gerade, ohne aus der Bahn geschleudert zu werden
oder umzukippen. Die zweite Kurve ging besser, in der dritten klebten
sie bereits vorbildlich in der Steilwand.
Sir Quirin, der unmittelbar hinter dem Weihnachtsmann saß, wendete
verzweifelt seinen Kopf hin und her. Vergeblich. Es schien, als zögen
seine Nüstern den wollenen Abschluss der Zipfelmütze geradezu magisch an.
Permanent kitzelte und juckte ihn der im Wind flatternde Bommel. Ein gewaltiges
Niesen stieg im Sir auf. Ein Niesen, das
sich schließlich in einer welterschütternden Explosion entlud.
Der Weihnachtsmann hätte sich gerne umgeblickt, um zu sehen, was hinter ihm
vorgefallen war, doch bei dem Höllentempo, das sie erreicht hatten,
war das nicht möglich.
„Sir Quirin hat den Schlitten verlassen.” verkündete das Bremserlein, wie
ein Ausrufer auf dem Jahrmarkt.
„Die Gewalt der Detonation hat ihn aus dem Sitz katapultiert.”
„Ver...” der Weihnachtsmann beherrschte sich gerade noch, auch wenn ihm
der prekäre Zwischenfall gewaltig an die Nieren ging. Hoffentlich hatte
sich der Sir nichts getan!
Dann musste sich der Weihnachtsmann einfach gratulieren: Die nächste Kurve nahm
er trotz der veränderten Gewichtsverhältnisse einfach gigantisch.
Die so befriedigende Selbst-Belobigung wurde abrupt gestört.
Das konnte doch nicht wahr sein! Der Weihnachtsmann riss angestrengt die Lider hoch,
doch der Spuk war dadurch nicht zu vertreiben: Vor ihnen,
auf der langen Geraden, lieferten sich zwei altersschwache
Lastwagen ein Überholduell und füllten dabei die gesamte Straßen-
beziehungsweise Bobbahnbreite aus. Das Christkind konnte doch unmöglich
vergessen haben, das Rennen für die Öffentlichkeit zu sperren und unsichtbar
zu gestalten? Wie kamen dann aber diese zwei Museumsstücke,
deren Reifen sicher keinen Millimeter Profil aufwiesen, auf die Bahn?!
„Kindl!” brüllte der Weihnachtsmann mit auf die Hindernisse fixiertem
Blick. Hindernisse, auf die sie geradezu zuzufliegen schienen. Was machte
bloß das Kindl? Es musste die beiden Wagen doch auch sehen!
„Köpfe einziehen!” rief der Weihnachtsmann verzweifelt, und steuerte den
Bob unter einen der beiden Kontrahenten.
„He, Steuermann, mach die Augen auf, die nächste Kurve!”
Der Weihnachtsmann riss den Kopf hoch, den er eigentlich schon abgeschrieben
hatte. Die Kurvendurchfahrt verlief miserabel, doch Hauptsache, sie hatten den
Lastwagen-Tunnel überlebt!
„Lady Edelgunde ist auf den Lastwagen übergewechselt!” ertönte
die Ansage des Christkinds von hinten. „Sie wollte sich die Dauerwelle
nicht durch die niedere Durchfahrt ruinieren.”
Auch wenn den Weihnachtsmann diese Mitteilung zutiefst erbitterte, er hatte
den Bob wieder im Griff. Einen echten Viererbob. Das entsprach in jedem Falle
besser den olympischen Richtlinien.
Plaza und Kirche San Francisco bereits!
Der Weihnachtsmann war sich sicher, dass sie eine gigantische Zeit
herausfahren würden! Der Platz flog nur so an ihnen vorbei - sie waren
ein wunderbares Team. Ein wenig bedauerte es der Weihnachtsmann, dass ihre
Fahrt unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, doch das Aufsehen
wäre einfach zu groß gewesen. Was für einen Anblick musste der Bob bieten,
der, einem Kometen gleich, auf dieser einmaligen Bahn seine Spur zog,
gesteuert von einem schlichtweg phantastischen Fahrer! Aus den Augenwinkeln
heraus sah der Weihnachtsmann einige Marktstände, an denen Indias selbst am
Heiligen Abend ihre Waren feilboten.
„Die Queen ist gerade ausgestiegen, sie hat auf einem der Stände eine
umwerfende Hutkreation erspäht, die sie unmöglich auslassen durfte.
Außerdem wurde ihr die Fahrt etwas lange. Sie hatte sich die Sache doch etwas
aufregender vorgestellt.”
Den Weihnachtsmann traf die Schilderung des Christkinds wie ein
Peitschenschlag. Wie konnte die Queen bei diesem rasenden Tempo eine
umwerfende Hutkreation ausmachen, wo sie in Bruchteilen einer Sekunde
den Platz passiert hatten? Vor allem aber: Wie um alles in der Welt konnte ein
Rentier, adelig oder nicht, bei diesem Tempo aussteigen?!
„Mach dir keine Gedanken - ich jedenfalls finde es herrlich! Man kann vom
Bremsersitz endlich einmal so richtig in Ruhe die Stadt auf sich wirken
lassen. Schön, dass du nicht so rast!”
Der Weihnachtsmann fühlte eine Nervenkrise in sich aufsteigen. Die
Geschwindigkeit trieb ihm die Tränen ins Gesicht, und das Kindl sprach
heiter von einer betulichen Stadtrundfahrt!
„Ich wechsle die Besatzung! Unwiderruflich!”
„Das Problem hat sich weitgehend bereits gelöst.” sagte das Christkind. „Der
King konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, er hat den Bob
ebenfalls verlassen.”
„Welcher Versuchung?”
„Hast du es denn nicht gerochen, das herrlich duftende Fleischpflanzl mit dem
Spiegelei darauf, das die India seit der Plaza neben dem Schlitten hergetragen
hat?”
„Neben dem Schlitten ...” Die Bass-Stimme des Weihnachtsmanns sank in ein
bodenloses, schwarzes Loch.
„Seit der Plaza.” bestätigte das Kindl vergnügt.
Mit stierem Blick steuerte der Weihnachtsmann den Bob auf die letzte Gerade,
zum Glück war das Talende der Stadt erreicht! Der Fahrer lenkte seinen
Bob durchs Ziel, das Bremserlein brachte den Schlitten unter gewaltigem
Aufstäuben silberblauer
Eiskristalle zum Stehen. Taumelnd erhob sich der Weihnachtsmann von
seinem Sitz und verließ sein Gefährt.
„Bravo! - Hervorragend! - Unglaublich! - Einmalig!”
Vor dem Weihnachtsmann standen die wild applaudierenden
Adelshäupter. Sie machten ein Spektakel, als sei halb La Paz versammelt:
„Du bist gefahren wie ein Weltmeister!”
„Wie denn - wenn ihr auch schon da seid?”
„Es war selbst für mich alles andere als einfach,
sie bei deinem Tempo noch vor dir herunter zu bringen.” sagte das Christkind,
„Wir dachten, du würdest es sicher genießen, wenn man dich im Ziel
gebührend feiert.”
„Dann war ich also doch schnell?” fragte der Weihnachtsmann zwischen Hoffen
und Bangen.
„Gigantisch schnell, Chef!” röhrte der Chor der Adelshäupter.
„Uneingeschränkte Bewunderung für diese Leistung!”
„Was seid ihr bloß für Banditen - mich so 'reinzulegen. Trotzdem:
Für mich war es eine einmalige Fahrt, auch wenn ich auf die
himmlischen Ingredienzien getrost hätte verzichten können.”
„Von wegen! Wenn ich nur an die Lastwagen denke!” protestierte die Queen.
„Und jemand könnte ruhig einmal ein Lob auf meinen neuen, phantastischen
Hut ausbringen.”
Das Wort phantastisch war eine kapitale Untertreibung, für die
indianische Hut-Couture, die der Queen in jeder Ahnenbildergalerie den
Ehrenplatz gesichert hätte.
Der Weihnachtsmann brachte das größte Lob, das ihm bei diesem Anblick
möglich war, hervor:
„Gigantisch! Und im übrigen: Euch allen ein wunderschönes Weihnachten!”
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Weihnachtsmann
in diesem Jahr zu viele Boulevardblätter gelesen und sein Sensationswortschatz
sich dadurch drastisch reduziert hatte. Und natürlich, dass alle
gigantische Feiertage miteinander verbrachten.
© Hans (Kili) Riethmayer; aus: Weihnachtsmann & Co. (unveröffentlicht).
Beim Maximilian Dietrich Verlag vom Autor erschienen: ... und schaute sehnsüchtig auf das Meer hinaus: Inselgeschichten (ISBN: 387164174X)
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