2. Dezember


Vorbemerkung: Eigentlich ist es selbstverständlich, aber da in diesem Auszug die Vorgeschichte fehlt, sei es sicherheitshalber angemerkt: Der Weihnachtsmann - um dessen Schlittenfahrt es sich hier dreht - lässt natürlich sein Gefährt nicht von gemeinen Rentieren ziehen, nein, es handelt sich um auserlesene Adelshäupter: Die Queen, Lady Edelgunde, den King und Sir Quirin. Über allen hält das Kindl, das Christkind, seine schützende Hand.


Eine denkwürdige Schlittenfahrt

Der Weihnachtsmann blickte verträumt über das Lichtermeer von La Paz hinweg, an dessen Bergende sie standen. Er hatte es dieses Jahr so eingerichtet, dass dies die letzte Station ihrer Ausfahrt war. Hänge und Tal schienen sich über und über mit den Lichtern von Straßenlaternen und Häusern geschmückt zu haben.
„Wie ein gigantischer Weihnachtswald!” sagte der Weihnachtsmann. Und sehnsüchtig fügte er hinzu: „Meinst du nicht, Kindl, dass wir ... Ich habe dieses Jahr keinen einzigen Glühwein getrunken ... es wäre ein gigantisches Weihnachtsgeschenk!”
Er verfolgte mit den Augen die breite, sich so elegant in die Hänge schmiegende Stadt-Autobahn, ergänzte nicht sichtbare Teile, bis sich das breite graue Band unten zwischen Hochhäusern, Kirchen und Wohnbauten verlor.
„Diese Kurven!” Er schnalzte bewundernd. „Dazwischen die langen Geraden. Insgesamt über 1000 Meter Höhenunterschied!”
Der Weihnachtsmann trennte wehmütig seinen Blick von der herrlichen Kulisse, und hob seinen Fuß, um auf seinen alt-ehrwürdigen Schlitten aufzusteigen. Als lächerliche Statue verharrte er mit angezogenem Bein, den Mund weit geöffnet. Vor ihm glitzerte, dehnte und streckte sich, einem gefährlichen Raubtier gleich, ein Bob „wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat!”. Violett und Rot, mit silberglitzernden Sternen gesprenkelt, vergoldeten Kufen, einem flotten Schriftzug Weihnachtsmann Racing Team an den Seiten, und einer großen, schwarzen Nummer 1 im weißen Feld auf der Fronthaube. Vor dem Bob glänzte die gerade noch so farblose Straße als kalt-blau verzauberte Eisrinne auf.
„Eins - zwei - drei - vier - fünf - sechs Sitze! Du hast an alles gedacht!” jubelte der Weihnachtsmann dem Christkind zu.
Das Christkind konnte ein Gefühl des Stolzes nicht ganz unterdrücken: „Mit einem extra-breiten und bequemen Sitz für den Steuermann. Wenn das auch die Windschnittigkeit etwas reduziert.”
„Und einem kleinen, leicht hochgezogenen, für das Bremserlein. Du übernimmst doch die Aufgabe, Kindl?”
„Wird wohl das beste sein!”
Die vier Adelshäupter blickten reichlich misstrauisch auf dieses „neumodische Gelumpe”, das sich vor ihnen fand.
„Nicht einmal eine Deichsel!” nörgelte der King, „Wie soll man da ziehen?”
„Ihr braucht zur Abwechslung nicht ziehen; nur kurz anschieben, dann springt einer nach dem anderen in den Schlitten; der Rest geht von selbst - und gigantisch bergab.”
„Das fürchte ich auch.” sagte Lady Edelgunde. „Kann ich vielleicht zu Fuß nebenhergehen?”
Der Weihnachtsmann gönnte ihr kein Wort, lediglich einen vernichtenden Blick. Er verteilte die Rentiere auf die Anschubpositionen, das Christkind durfte bereits auf seinem Bremsersitz Platz nehmen. Ein letzter Blick auf die Strecke, dann gab der Weihnachtsmann das Anschubkommando: „Und eins - und zwei - und drei - und ab!”
Das Raubtier setzte sich in Bewegung, gewann dank der Dynamik der Adelshäupter schnell an Fahrt, während sich der Weihnachtsmann bereits nach dem zweiten Schritt auf seinen extra-breiten Sitz plumpsen ließ, nicht ohne den geziemenden tierischen Schrei auszustoßen, den er von Fernsehübertragungen her kannte. Als ob sie ihr Leben lang nichts anderes gemacht hätten als Bob zu fahren, sprangen die Adelshäupter eines nach dem anderen auf ihre Plätze, duckten sich in die Sitze. Der vierfach geweihte Bob glitt auf die erste Kurve zu.
Dem Weihnachtsmann zuckte kurz der erschreckende Gedanke durch den Kopf, dass sie keine Helme besaßen. Doch die Helmpflicht wäre bei den Adelshäuptern unmöglich durchzusetzen gewesen: Die Queen hätte sich kategorisch geweigert, ihr unvergleichliches Kapotte-Hütchen durch etwas anderes zu ersetzen, Lady Edelgunde, ihre dauergewellte Mähne zu verunzieren, der Sir hätte betont, dass sein Cox mindestens die gleiche Sicherheit biete wie ein Helm, und der King ohne Krone - undenkbar.
Die erste Kurve! Ein wenig schwankend und trudelnd erwischte sie der Weihnachtsmann, die Kufen erzeugten schauerliche Geräusche, aber er brachte seinen neuen Schlitten heraus, auf die nächste Gerade, ohne aus der Bahn geschleudert zu werden oder umzukippen. Die zweite Kurve ging besser, in der dritten klebten sie bereits vorbildlich in der Steilwand.
Sir Quirin, der unmittelbar hinter dem Weihnachtsmann saß, wendete verzweifelt seinen Kopf hin und her. Vergeblich. Es schien, als zögen seine Nüstern den wollenen Abschluss der Zipfelmütze geradezu magisch an. Permanent kitzelte und juckte ihn der im Wind flatternde Bommel. Ein gewaltiges Niesen stieg im Sir auf. Ein Niesen, das sich schließlich in einer welterschütternden Explosion entlud.
Der Weihnachtsmann hätte sich gerne umgeblickt, um zu sehen, was hinter ihm vorgefallen war, doch bei dem Höllentempo, das sie erreicht hatten, war das nicht möglich.
„Sir Quirin hat den Schlitten verlassen.” verkündete das Bremserlein, wie ein Ausrufer auf dem Jahrmarkt. „Die Gewalt der Detonation hat ihn aus dem Sitz katapultiert.”
„Ver...” der Weihnachtsmann beherrschte sich gerade noch, auch wenn ihm der prekäre Zwischenfall gewaltig an die Nieren ging. Hoffentlich hatte sich der Sir nichts getan!
Dann musste sich der Weihnachtsmann einfach gratulieren: Die nächste Kurve nahm er trotz der veränderten Gewichtsverhältnisse einfach gigantisch. Die so befriedigende Selbst-Belobigung wurde abrupt gestört. Das konnte doch nicht wahr sein! Der Weihnachtsmann riss angestrengt die Lider hoch, doch der Spuk war dadurch nicht zu vertreiben: Vor ihnen, auf der langen Geraden, lieferten sich zwei altersschwache Lastwagen ein Überholduell und füllten dabei die gesamte Straßen- beziehungsweise Bobbahnbreite aus. Das Christkind konnte doch unmöglich vergessen haben, das Rennen für die Öffentlichkeit zu sperren und unsichtbar zu gestalten? Wie kamen dann aber diese zwei Museumsstücke, deren Reifen sicher keinen Millimeter Profil aufwiesen, auf die Bahn?!
„Kindl!” brüllte der Weihnachtsmann mit auf die Hindernisse fixiertem Blick. Hindernisse, auf die sie geradezu zuzufliegen schienen. Was machte bloß das Kindl? Es musste die beiden Wagen doch auch sehen!
„Köpfe einziehen!” rief der Weihnachtsmann verzweifelt, und steuerte den Bob unter einen der beiden Kontrahenten.
„He, Steuermann, mach die Augen auf, die nächste Kurve!”
Der Weihnachtsmann riss den Kopf hoch, den er eigentlich schon abgeschrieben hatte. Die Kurvendurchfahrt verlief miserabel, doch Hauptsache, sie hatten den Lastwagen-Tunnel überlebt!
„Lady Edelgunde ist auf den Lastwagen übergewechselt!” ertönte die Ansage des Christkinds von hinten. „Sie wollte sich die Dauerwelle nicht durch die niedere Durchfahrt ruinieren.”
Auch wenn den Weihnachtsmann diese Mitteilung zutiefst erbitterte, er hatte den Bob wieder im Griff. Einen echten Viererbob. Das entsprach in jedem Falle besser den olympischen Richtlinien.
Plaza und Kirche San Francisco bereits! Der Weihnachtsmann war sich sicher, dass sie eine gigantische Zeit herausfahren würden! Der Platz flog nur so an ihnen vorbei - sie waren ein wunderbares Team. Ein wenig bedauerte es der Weihnachtsmann, dass ihre Fahrt unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, doch das Aufsehen wäre einfach zu groß gewesen. Was für einen Anblick musste der Bob bieten, der, einem Kometen gleich, auf dieser einmaligen Bahn seine Spur zog, gesteuert von einem schlichtweg phantastischen Fahrer! Aus den Augenwinkeln heraus sah der Weihnachtsmann einige Marktstände, an denen Indias selbst am Heiligen Abend ihre Waren feilboten.
„Die Queen ist gerade ausgestiegen, sie hat auf einem der Stände eine umwerfende Hutkreation erspäht, die sie unmöglich auslassen durfte. Außerdem wurde ihr die Fahrt etwas lange. Sie hatte sich die Sache doch etwas aufregender vorgestellt.”
Den Weihnachtsmann traf die Schilderung des Christkinds wie ein Peitschenschlag. Wie konnte die Queen bei diesem rasenden Tempo eine umwerfende Hutkreation ausmachen, wo sie in Bruchteilen einer Sekunde den Platz passiert hatten? Vor allem aber: Wie um alles in der Welt konnte ein Rentier, adelig oder nicht, bei diesem Tempo aussteigen?!
„Mach dir keine Gedanken - ich jedenfalls finde es herrlich! Man kann vom Bremsersitz endlich einmal so richtig in Ruhe die Stadt auf sich wirken lassen. Schön, dass du nicht so rast!”
Der Weihnachtsmann fühlte eine Nervenkrise in sich aufsteigen. Die Geschwindigkeit trieb ihm die Tränen ins Gesicht, und das Kindl sprach heiter von einer betulichen Stadtrundfahrt!
„Ich wechsle die Besatzung! Unwiderruflich!”
„Das Problem hat sich weitgehend bereits gelöst.” sagte das Christkind. „Der King konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, er hat den Bob ebenfalls verlassen.”
„Welcher Versuchung?”
„Hast du es denn nicht gerochen, das herrlich duftende Fleischpflanzl mit dem Spiegelei darauf, das die India seit der Plaza neben dem Schlitten hergetragen hat?”
„Neben dem Schlitten ...” Die Bass-Stimme des Weihnachtsmanns sank in ein bodenloses, schwarzes Loch.
„Seit der Plaza.” bestätigte das Kindl vergnügt.
Mit stierem Blick steuerte der Weihnachtsmann den Bob auf die letzte Gerade, zum Glück war das Talende der Stadt erreicht! Der Fahrer lenkte seinen Bob durchs Ziel, das Bremserlein brachte den Schlitten unter gewaltigem Aufstäuben silberblauer Eiskristalle zum Stehen. Taumelnd erhob sich der Weihnachtsmann von seinem Sitz und verließ sein Gefährt.
„Bravo! - Hervorragend! - Unglaublich! - Einmalig!”
Vor dem Weihnachtsmann standen die wild applaudierenden Adelshäupter. Sie machten ein Spektakel, als sei halb La Paz versammelt:
„Du bist gefahren wie ein Weltmeister!”
„Wie denn - wenn ihr auch schon da seid?”
„Es war selbst für mich alles andere als einfach, sie bei deinem Tempo noch vor dir herunter zu bringen.” sagte das Christkind, „Wir dachten, du würdest es sicher genießen, wenn man dich im Ziel gebührend feiert.”
„Dann war ich also doch schnell?” fragte der Weihnachtsmann zwischen Hoffen und Bangen.
Gigantisch schnell, Chef!” röhrte der Chor der Adelshäupter. „Uneingeschränkte Bewunderung für diese Leistung!”
„Was seid ihr bloß für Banditen - mich so 'reinzulegen. Trotzdem: Für mich war es eine einmalige Fahrt, auch wenn ich auf die himmlischen Ingredienzien getrost hätte verzichten können.”
„Von wegen! Wenn ich nur an die Lastwagen denke!” protestierte die Queen. „Und jemand könnte ruhig einmal ein Lob auf meinen neuen, phantastischen Hut ausbringen.”
Das Wort phantastisch war eine kapitale Untertreibung, für die indianische Hut-Couture, die der Queen in jeder Ahnenbildergalerie den Ehrenplatz gesichert hätte.
Der Weihnachtsmann brachte das größte Lob, das ihm bei diesem Anblick möglich war, hervor:
„Gigantisch! Und im übrigen: Euch allen ein wunderschönes Weihnachten!”

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Weihnachtsmann in diesem Jahr zu viele Boulevardblätter gelesen und sein Sensationswortschatz sich dadurch drastisch reduziert hatte. Und natürlich, dass alle gigantische Feiertage miteinander verbrachten.


© Hans (Kili) Riethmayer; aus: Weihnachtsmann & Co. (unveröffentlicht).
Beim Maximilian Dietrich Verlag vom Autor erschienen: ... und schaute sehnsüchtig auf das Meer hinaus: Inselgeschichten (ISBN: 387164174X)