15. Dezember


Vorbemerkung: Vielleicht erinnert sich der eine oder andere regelmäßige Besucher unseres Adventkalenders noch an die Geschichte Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010) des vergangenen Jahres, die sich um das (Christ)Kindl, den Weihnachtsmann und seine vier Rentiere, die Adelshäupter rankte - hier eine weitere Episode dazu, quasi die Vorgeschichte.


Schöne Bescherung


In diesem Jahr verliefen die Vorweihnachtstage wie gewohnt: Der Weihnachtsmann kramte in seinem Lager, in dem er alle Weihnachtsgeschenke in zahllosen Regalen sammelte und sortierte, bevor sie in ausgeklügelter Reihenfolge auf den Schlitten wanderten. Er kam und kam nicht zum Ende. Die Stirn in tiefe Falten gelegt, seufzte er in seine Liste hinein. Es war einfach nicht möglich! Er hatte das vorderste Regal, dessen Inhalt er gerade auf den Schlitten schichten wollte, wiederholt kontrolliert. Wie konnte es dann sein, dass ... Ein zorniges Surren riss ihn aus seinem ratlosen Grübeln. Das Surren ertönte unfraglich aus dem Raum neben dem Lager, dem Wohnzimmer. Das Wohnzimmer gehörte den vier Rentieren des Weihnachtsmanns. Natürlich handelte es sich nicht einfach um „irgendwelche” Rentiere. Dies würde beim Weihnachtsmann auch niemand erwarten. Es handelte sich um die Adelshäupter, wie sich die edlen Renner selbst bezeichneten: Die Queen, King Irenäus, Lady Edelgunde und Sir Quirin. Die Queen hatte es nicht für nötig empfunden, sich einen Namen zu wählen, denn sie war die Queen schlechthin. Und dass Adelshäupter nicht einfach einen Stall bewohnen, sondern ein behaglich hergerichtetes Wohnzimmer, dürfte ebenfalls klar sein.
Da der Weihnachtsmann bereits in seiner Konzentration gestört war, konnte er sich ebensogut darum kümmern, die Ursache für das widerliche Geräusch zu erkunden. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Ein Bild weihnachtlicher Beschaulichkeit bot sich ihm: Die Queen und Lady Edelgunde saßen heiter plaudernd vor den Teilen eines Puzzles, das in ferner Zukunft einen Weihnachtsschlitten mit einem fröhlichen Weihnachtsmann und vier eingespannten Rentieren zeigen würde; King Irenäus und Sir Quirin lagen bequem auf den Boden gebreitet; und das Christkind, das wie üblich kurz vor Weihnachten auf dem schönen Gut des Weihnachtsmanns eingetroffen war, schwebte auf seiner Sitzwolke und sang mit seiner glockenhellen Stimme ein Weihnachtslied. Das nur gestört wurde durch das hässliche Surren. Das vom Boden herrührte. Genauer gesagt, von zwei Rennwagen, die über eine Rennbahn flitzten, und deren Steuerung die beiden männlichen Adelshäupter in Händen hielten.
„Ist das ...” hob der Weihnachtsmann an zu fragen.
„Pssst!!” wurde er von King und Sir unwillig zu Räson und Ruhe gebracht.
In diesem Moment trug es den Renner des Kings, der einen deutlichen Vorsprung vor demjenigen Sir Quirins aufwies, aus der Kurve. Die Krone, die das Haupt Kings Irenäus' bedeckte, warf funkelnde Blitze durch den Raum, als er den Kopf hob. Der King stieß nur ein einziges Wort hervor, doch dies in einer Weise, die die Schuldzuweisung einer ganzen Rede in sich vereinte:
„Du!”
Der Weihnachtsmann zuckte zusammen. Doch dann stieg der Unmut geballt in ihm auf. Mit mühsam kontrollierter Stimme sagte er:
„Sind dies vielleicht das Puzzle und die Autobahn, die mir im vordersten Regal fehlen?”
„Nein, Chef!” sagte der Sir „Die Sachen stammen aus dem hintersten Regal.”
„Und wer hat euch genehmigt, irgendetwas aus welchem Regal auch immer zu nehmen, und meine Vorbereitungen dadurch zu stören?!”
„Das Kindl!”
Vier Vorderläufe deuteten einträchtig auf das Christkind. Der Weihnachtsmann stemmte die Fäuste in seine mäßig ausgebildete Taille und wandte sich dem Kindl zu.
„Ach ja?”
„Sie haben so gebettelt. Ist ja auch schwer, wenn einem langweilig ist und nebenan Regale voll mit Gaben stehen. Da habe ich ihnen erlaubt zwei Sachen aus dem letzten Regal zu nehmen, weil du noch weit davon entfernt bist, die Geschenke daraus zu brauchen. Ich werde sie rechtzeitig wieder in den Originalzustand überführen. Versprochen!”
„Und wie kommt es, dass mir gerade eine solche Autobahn und ein solches Puzzle im ersten Regal fehlen?”
Vier Augenpaare richteten sich auf Lady Edelgunde. Diese hob unschuldsvoll-verwirrt die Lider und bedachte den Weihnachtsmann mit naivem Blick:
„Oh, da muss ich wohl Vorn und Hinten in deinem Lager verwechselt haben. Ich bin natürlich untröstlich darüber.” Ein Gefühl, das man ihrer Stimme auch beim größten Bemühen nicht entnehmen konnte.
„Du warst ganz einfach zu bequem, weiter hinter nachzuschauen, du, du ...”
„Keine unziemlichen Worte in unsere adeligen Ohren - du weißt, wie empfindsam wir sind!”
Der Weihnachtsmann verschwand, eine Reihe unziemlicher Gedanken in seinem Kopf wälzend, wieder in seinem Lager, um Rennbahn und Puzzle aus dem hintersten Regal zu besorgen.

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Im Gegensatz zu den kleinen Unregelmäßigkeiten bei den Vorbereitungen, verliefen Ausfahrt und Verteilung der Gaben geradezu langweilig unproblematisch. Nach der Rückkehr entwickelte sich im Haus des Weihnachtsmann eine fröhlich-aufgeregte Feststimmung.
„Ich denke, wir sind soweit!” Der Weihnachtsmann klatschte in die Hände. „Wir können den Einzug beginnen.”
Da dem Kindl ganz spezielle Methoden zur Verfügung standen, um die Kerzen des Weihnachtsbaums zu entzünden, brauchte niemand das Weihnachtszimmer vorab zu betreten.
„Einen Moment noch” sagte Lady Edelgunde. „Wo ist denn nur ..., wo habe ich denn ...”
Wie ein Irrwisch fegte sie den Flur entlang, ins Bad, ins Wohnzimmer, brachte dort die leidliche Ordnung hastig stöbernd durcheinander, eilte ins Lager, um sich gleich darauf durch die erstaunte Festschar hindurchzudrängen, und in der Küche zu verschwinden.
„Er kann eigentlich unmöglich dort sein, ich war überhaupt nicht in der Küche!”
Sie durchwühlte die Garderobe, riss einige der wunderhübschen Hutkreationen der Queen zu Boden, die mehrmals ein entrüstetes „Aber Edelgunde” ausstieß; schließlich verschwand die Lady wieder im Bad. Die versammelte Festgemeinde sah sich ratlos an. Ihre in das Hasten eingeworfenen Frageversuche prallten wirkungslos an der verbissen die Räume durchwirbelnden Lady ab.
Schließlich versperrte die Queen Lady Edelgunde den Weg und nagelte sie damit fest: „Was fehlt dir denn, Liebes, dass du uns alle warten lässt und durch die Zimmer hetzt, wie die wilde Jagd?” fragte die Queen.
„Das Wichtigste von allem - mein Nüsternpuder! Ich bin mir ab-so-lut sicher, dass ich ihn an seinen Platz gelegt habe!” Lady Edelgunde hatte die Queen soweit zur Seite geschoben, dass sie die Übrigen mit funkelnden Augen mustern konnte. „Wer hat ihn genommen?”
„Ich benutze ausschließlich meinen. Mit Nüsternpuder bin ich sehr eigen” bemerkte die Queen würdevoll.
„Der Chef hat heute eine so matt-blasse Nase” flüsterte Sir Quirin dem King so laut zu, dass alle es hören mussten.
Lady Edelgunde versah den Sir mit einem tödlichen Blick. „Das ist kein Spaß!” sagte sie eisig. „Also? Niemand? - Dann nehme ich an der Bescherung nicht teil, nicht ohne meinen Nüsternpuder!”
Lady Edelgunde wandte sich um und stolzierte würdig-gekränkten Schrittes ins Wohnzimmer.
Die Gesellschaft schwankte zwischen Belustigung und Ungeduld. Solch ein Theater wegen eines Nüsternpuders - du meine Güte! Doch alles Zureden half nichts, Lady Edelgunde hatte auf stur geschaltet.
„Lass uns zusammen ins Bad gehen” sagte das Christkind mit sanfter Stimme. Dem Kindl konnte sich nicht einmal der Zorn der Lady verschließen. Zumal es sich nur ums Bad und nicht ums Bescherungszimmmer drehte. Nach kurzer Zeit erschienen beide wieder, Lady Edelgunde mit vornehm matten Nüstern, doch immer noch sehr reserviert.
„Dann also los!” Der Weihnachtsmann steckte den Schlüssel zum Arbeitszimmer ins Schloss, sperrte auf und öffnete die Tür.
„Die Kerzen!”
Sogar das Christkind hatte in der Aufregung um die glänzende Nase vergessen, die Kerzen wieder zu löschen. Die weit herabgebrannten Kerzen verstrahlten mehr ein diskretes Funkeln, als ein helles Strahlen. Um so mehr wurden die Blicke aller von einem Gegenstand angezogen, dessen Lichtreflexe den Raum in ein metallisch-blaues Licht tauchte.
„Eine Dampfmaschine!” strahlte der Sir. „Mit einem Sägewerk, einer Schmiede und sogar einem richtig rauchenden Schlot!”
Ein überglücklicher Sir stand fasziniert, sog all die Bewegung und die Geräusche in sich ein, die sein lange gehegter und nun erfüllter Wunsch hervorbrachte. Sanft und weiß wie Schnee flirrte der Rauch herunter auf das Dach der Fabrikhalle und das sie umgebende Terrain.
„Aber das ist ...” Lady Edelgunde hatte schon einige Male die Luft tief eingesogen; nun durchquerte sie mit zwei Riesenschritten die Distanz zwischen Tür und Dampfmaschine, drehte lieblos den Kamin aus seiner Verankerung und brachte ihn zum Absturz. „... mein Nüsternpuder! Ich habe es doch gerochen. Mein Nüsternpuder wird hier durch den Kamin gejagt! Das ist ja un-ge-heu-er-lich!”
Sie senkte langsam ihren Blick in die blinzelnden Augen des Weihnachtsmanns, ein Vorwurf gewordenes Adelshaupt.
„Dein Nüsternpuder? Ach - das ist also ein Nüsternpuder. Ich dachte es sei Faschingspuder vom letzten Jahr. Du musst einem armen, alten Mann schon verzeihen, dass er sich mit all den weiblichen Renovierungsmitteln nicht so gut auskennt. Zumal der Puder ganz hinten stand, und so aussah, als werde er schon seit ewigen Zeiten nicht mehr verwendet.”
Der Weihnachtsmann präsentierte das Bild der kompletten männlichen Unschuld und Unwissenheit. Womit er Lady Edelgunde keineswegs besänftigte:
„Der Puder stand keineswegs ganz hinten - er stand ganz vorn!”
„Aber, Edelgunde!” rief der Weihnachtsmann verblüfft. „Seit wann kannst du denn zwischen vorn und hinten unterscheiden?”
Lady Edelgunde sah in die grinsenden Gesichter der Übrigen, überlegte kurz, ob sie eingeschnappt sein solle, und gab dann auf:
„Okay - das war ein ganz schön übles Revanchefoul. Warte nur bis zur nächsten Bescherung!”
„Schöne Weihnachten, Lady. Das ist vom Christkind und von mir. Das Kindl hat mich ein wenig beraten.”
Lady Edelgunde verabreichte dem Weihnachtsmann einen zartfühlenden Nasenstüber, als sie die edlen Kosmetika (natürlich inklusive Nüsternpuder) ausgepackt hatte, und raunte ihm ins Ohr „Aber ein Schuft bist du trotzdem!”
„Danke, gleichfalls!” erwiderte der Weihnachtsmann, „Auch wenn dein Augenaufschlag noch so unschuldsvoll ist!”

Kili Riethmayer