Vorbemerkung: Vielleicht erinnert sich der eine oder andere regelmäßige
Besucher unseres Adventskalenders noch an die Geschichte des vergangenen Jahres,
die sich um das (Christ)Kindl, den Weihnachtsmann und seine vier Rentiere, die
Queen, den King, Lady Edelgunde und Sir Quirin - oder kurz: die
Adelshäupter - rankte. Hier eine weitere Episode.
Die Überraschung
Schon geraume Zeit vor Weihnachten hatten die Adelshäupter den
Weihnachtsmann zu einer Besprechung ins Wohnzimmer geladen: So, wie sie
Weihnachten Jahr für Jahr feierten, sei es zwar schön und gemütlich, doch
auf der anderen Seite „recht eingefahren”. Ob der Chef etwas dagegen habe,
dass dieses Mal die Adelshäupter die Vorbereitungen träfen und das
Weihnachtszimmer schmückten?
„Eine gute Idee.” Der Weihnachtsmann nickte zustimmend. „Das einzige Problem
ist, dass ich euch mein Arbeitszimmer nicht schon Tage vorher überlassen
kann - und ich nehme doch ganz stark an, dass das Weihnachtszimmer eine
Überraschung für das Kindl und mich sein soll?”
„Klar”, schmetterte der Chor, „eine gewaltige Überraschung!”
„Doch wir wollten dafür nicht dein Arbeits-, sondern das Wohnzimmer
hernehmen, das bietet mehr Platz.” fügte die Queen an.
„Ist schließlich auch unser Zimmer.” ergänzte der King.
„Es wird einfach großartig!” Lady Edelgunde bekam feuchte Augen, als sie
das Weihnachtszimmer vor ihrem inneren Auge vorbeiflimmern ließ.
Der Weihnachtsmann bemerkte schnell, warum die Besprechung so früh im Jahr
stattgefunden hatte: Ab Mitte November erschallte jedes Mal ein entschiedenes
„Geschlossen!”, wenn er in alter Gewohnheit den Weg zum Lager
durchs Wohnzimmer einschlagen wollte. Der Weihnachtsmann lauschte
für einen Moment auf die Geräusche, die durch die Tür drangen
- gedämpftes Rascheln von Papier, ein prüfendes „etwas weiter nach links
und dazu ein wenig nach oben”, ein kurzes Hämmern, ein jubelndes „das wird
der Renner”. Dann ging er durch den Flur zurück zur Haustür und
zog brummend seine Stiefel an:
„Gerade in diesem Jahr muss der Schnee
so früh kommen und dazu auch noch liegen bleiben! Ich wette, dass er
an Heilig Abend wieder weggetaut oder -geregnet ist.”
Unwillkürlich warf er bei jedem seiner täglichen Gänge, die der
Bestandsaufnahme und Ergänzung der Geschenke dienten, einen Blick zum
Wohnzimmerfenster hinüber. Doch das war von den Adelshäuptern gründlich
verhüllt worden.
„Einen Monat Vorbereitung - ich würde gar zu gerne wissen, was
meine vier Koryphäen aushecken ...”
Die Ausfahrt gestaltete sich dieses Jahr zu einer gelinden Katastrophe.
Die Adelshäupter waren schrecklich aufgeregt, tuschelten fortwährend miteinander,
fuhren den Schlitten zweimal derart in die Schneewehen, dass sie alle Mühe
hatten den „Gabenstapler” wieder freizubekommen, ohne ihn
umzukippen. Wider jegliche todsichere Prognose des Weihnachtsmanns war der
Schnee auch zum Weihnachtsabend liegen geblieben. Schließlich folgte
der Gipfel des chaotischen Fahrabends:
„Jetzt reicht's aber!” rief der Weihnachtsmann mit aller Stimmgewalt, die
ihm zur Verfügung stand, hinter dem sich entfernenden Schlitten her.
In ihrem Getuschel und Geflüster hatten die Adelshäupter überhaupt nicht
registriert, dass der Weihnachtsmann noch beim Ausliefern der Geschenke war;
unter dem Schellengeläut ihres Geschirrs hatten sie sich in Bewegung gesetzt,
und in ihrem Geratsche die verzweifelten Versuche des Christkinds, sie zum
Anhalten zu bringen, mühelos überhört. Endlich hatte es
das Christkind geschafft, sich auf den Kutschbock zu schwingen, die
Zügel anzuziehen, und die Adelshäupter soweit aus ihrer Unterhaltung zu
reißen, dass sie anhielten.
Mit einem berückenden Augenaufschlag sagte
Lady Edelgunde zum herantrabenden Weihnachtsmann: „Herrlich, dieses knirschende
Geräusch von eilenden Schritten im Schnee! Es macht einfach Spaß, schon wieder so
einen wunderbaren Winter zu haben.”
„Manchmal überkommt mich eine schier unbezähmbare Lust auf Rentiersteak!”
bruttelte der Weihnachtsmann schwer atmend.
„Pfui!” verurteilte der Chor den Chef verachtungsvoll.
Endlich war es soweit. Lady Edelgunde, die aufgeregteste der Vier,
verschwand im Weihnachtszimmer, um - dieses Jahr konventionell, ohne
jegliche himmlischen Extras - die Kerzen
anzuzünden. Die Bescherungsglocke ertönte. Lady
Edelgunde riss die Tür sperrangelweit auf, das Christkind und der
Weihnachtsmann durften einmarschieren, eskortiert von Queen, King und Sir.
Den beiden Bescherten verschlug es die Sprache. Hatten sie bislang
nur wenige Gedanken darauf verschwendet, was sich für Rentiere im
allgemeinen und Adelshäupter im besonderen hinter Begriffen wie
schön, stimmungsvoll, festlich verbergen mochte, so erhielten sie
nun, in einem
einzigen Augenblick, umfassenden Aufschluss darüber. Die Adelshäupter
hatten ganz offensichtlich den Schuppen neben der Garage und den Dachboden
umfassend geplündert. Das Wohnzimmer war mit sämtlichen
„Preziosen” der Lagerstätten drapiert, die Farbe und Glitter
aufwiesen. Was eine gewaltige Menge war, denn im Lauf der vielen Jahre kamen
Geschenke aus der Mode, die der Weihnachtsmann sich in günstigen
Vorratspackungen zugelegt hatte; gingen Liebesgaben zum Umtausch zurück, die
im nächsten Jahr vergessen wurden wieder miteinzubeziehen; sammelten sich
Herrlichkeiten an, die derart geschmacklos waren, dass es der Weihnachtsmann
nach hartem Ringen nicht übers Herz gebracht hatte, sie unter einen
Weihnachtsbaum zu legen, sie oft im letzten Moment wieder aus dem
Schlitten nahm. Aus all diesen
Köstlichkeiten hatten die Adelshäupter einen Raum gestaltet, der
die phantastischen Seiten eines Kuriositätenkabinetts, einer
Faschingshochburg, eines
Wachsfiguren-Panoptikums und eines Trödlerladens in sich vereinte.
Im Zentrum des Wohnzimmers thronte der Weihnachtsbaum als pyramidaler
Höhepunkt, geschmückt mit Silber-, Gold- und Pink-Lametta,
mit Plastikkugeln in Neon-Regenbogenfarben, mit allerliebsten
Gartenzwergen, die sich in hilfreichen Tätigkeiten mühten oder auch
nur stoisch ihrem Anglerdasein nachgingen, mit aufklappbaren Nikolausstiefeln
und -häuschen, in denen gar putzige Mäusefamilien ihr Stüblein
fegten oder ihr mäusliches Fest bereiteten, mit Sternensingern,
die, wiewohl am Halse aufgeknüpft, die Luft mit mächtigem Gesang
zu erfüllen schienen - und natürlich mit einer Fülle von
Rentieren, bekleidet mit roten Weinhachtsmannmänteln und -mützen.
„Ist es nicht wunderbar?” Die Queen blinzelte verklärt.
Lady Edelgunde konnte
nicht sprechen, schluckte schwer und tupfte sich die Augen trocken,
die ein großer Trauerrand von verlaufenem Lidschatten umgab.
„Es ist wunderbar!” nickten King Irenäus und der Sir, auch sie
nur mühsam gefasst.
Der Weihnachtsmann wurde durch das Schauspiel einige Jahre in seiner
Entwicklung zurückgeworfen:
„Es ist gigantisch!” stieß er in einem fort hervor „Einfach gigantisch!”
„Dabei kommt der Clou erst noch!” triumphierte der King und bückte
sich. Der Weihnachtsbaum, der in einem schweren, alten, versilberten Ständer
stand, begann sich langsam zu drehen, und die Melodie von „Oh
Tannenbaum”
erscholl verzerrt aus dem langsam auf Touren kommenden Ständer.
„Der funktioniert doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr” stotterte der
Weihnachtsmann ungläubig.
Den männlichen Adelshäuptern schwoll die Brust:
„Und nun sogar elektrisch, dass man nicht immerfort aufziehen muss.”
„Deckung!” rief der Weihnachtsmann. Das beschauliche Spektakel hatte nach
einer kurzen Aufwärmphase eine ungeheure Dynamik gewonnen: Der
Weihnachtsbaum wirbelte wie die Putzwalze einer Autowaschanlage um die
eigene Achse.
Endlich schaffte es der King seine Erstarrung zu überwinden und die
Stromversorgung zu unterbrechen. Sir Qurin machte eine
resignierte Handbewegung:
„Ein dutzend Mal haben wir's dir gesagt: Rechts ist Stufe I, rechts!”
„Schalter und Motor vom großen Deckenventilator?” fragte der
Weihnachtsmann.
„Ja.” erwiderte der Sir gepresst.
„Verstehe”, sagte der Weihnachtsmann, „links ist Stufe V.”
Der Weihnachtsbaum stand makellos grün, wie frisch aus dem Wald
hereingeholt, im Zimmer. Kein Stück der Dekoration zierte ihn länger.
Adelshäupter und Weihnachtsmann sahen sich betreten an - bis sie gewahr
wurden, welchen Anblick sie boten: Auf dem Geweih des Kings fanden
sich all die lustig flackernden Kerzen wieder, die den Weihnachtsbaum noch vor
wenigen Augenblicken geschmückt hatten; die Queen erstrahlte im Goldschmuck
ihrer neuen Lamettahaare mit pinkfarbenen Strähnchen, Sir Quirin zeigte
vornehm versilberte Schläfen an seiner Mähne; der Weihnachtsmann war
behangen mit all den niedlichen Rentieren, und Lady Edelgundes Äußeres
erinnerte an eine gut ausstaffierte Modeschmuck-Boutique. Die also
Veredelten wandten sich mit einem Ruck zum Christkind um. Das saß auf
seiner Wolke, sanft schaukelnd und ungeschmückt.
„Ja?” fragte es, als es alle Blicke auf sich gerichtet sah.
„Das geht doch unmöglich mit rechten Dingen zu!” Der Chor der Adelshäupter
wurde dieses Mal verstärkt durch den Bass des Weihnachtsmanns.
„Das sehe ich auch so.” sagte das Christkind vergnügt. „Ihr müsst zugeben,
dass es sehr stimmungsvoll ist - stimmungsvoller jedenfalls,
als wenn alles im Zimmer verstreut wäre.”
„Finde ich auch!” stimmte Lady Edelgunde zu.
Der Weihnachtsbaum musste für diesen Abend auf wesentliche Teile seines
Schmucks verzichten, denn Lady Edelgunde weigerte sich ihr Dekor
zurückzuhängen. Und die anderen mussten weitgehend auf ihre
Gesellschaft verzichten, denn sie konnte sich nur kurzzeitig von ihrem
Spiegelbild im Bad lösen.
Kili Riethmayer
Für den Fall, dass Ihnen die Erlebnisse von Weihnachtsmann & Co.
Spaß machen und Sie die im Adventskalender enthaltenen Episoden verpasst haben, finden Sie diese
unter den nachstehenden Links.
Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010),
Schöne Bescherung (2011)
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