LEO

22. Dezember ­2019

Fortsetzung von gestern

„Wir wollten nur kurz schauen, ob auch alles in Ordnung ist bei euch”, quetschte der Weihnachtsmann heraus, beim vergeblichen Versuch, seine Autorität wieder aufzurichten und die Adelshäupter zurückzudrängen. „Eure Eltern kommen sicher bald – wir schauen dann mal weiter.”

„Bitte, bitte, bleibt, bis sie da sind, es ist furchtbar unheimlich ganz alleine am Weihnachtsabend. Dabei hatten sie versprochen um fünf spätestens zurück zu sein.”

Der Weihnachtsmann hatte Mühe, seine eigenen Augen trocken zu halten, bei den großen, feuchten Augen, mit denen ihn Sophie flehentlich ansah. „Es ist nur, ich muss noch so viel erledigen. Ich bin erst am Anfang meiner Ausfahrt.”

„Wir sollten trotzdem noch ein wenig bleiben, du schaffst das schon.”

„Wenn du meinst, Kindl." Der Weihnachtsmann zuckte resigniert mit den Schultern. Von Sophies und Michis Herzen fielen dicke Eiszapfen ab.

„Ihr dürft bloss nicht mit nassen Sachen in die Küche.” Michi fixierte mit ungläubigem Staunen den gewaltigen Aufbau auf dem Kopf der Queen.

„Ich habe verstanden.”, seufzte die Queen und ging nochmals vor die Haustüre. ,Mögen ihm alle seine Schutzpatrone gnaden, wenn die Kreation auf dem Bild nicht genauso imposant herauskommt wie im Original.'

Recht verklemmt standen die anderen in der großen, gemütlichen Wohnküche, als die Queen eintrat: Michi hatte einen Arm um Sophie gelegt, die den Kopf tief gesenkt hielt, die drei im Zimmer befindlichen Adelshäupter drängten sich hinter dem Rücken des Weihnachtsmanns, der sich seinerseits an der Hand des Kindls festhielt.

„Ich denke ..., ich denke ...”, stotterte der und drückte die kleine, so große Ruhe ausstrahlende Hand.

„Ja, lieber Weihnachtsmann, du hast recht. Es ist schon so spät geworden, da sollten Sophie und Michi wenigsten jeder ein Weihnachtsgeschenk auspacken dürfen.” Der Weihnachtsmann fühlte, wie sich in seine Rechte und seine Linke die Geschenke sowie in sein Denken die Gewissheit ,rechts Sophie, links Michi' schoben.


Zögerlich nahmen die Gschwendtnerkinder die Gaben des Weihnachtsmanns an und hauchten ein schüchternes „Danke!” heraus. Die Adelshäupter, immer noch versammelt hinter dem Rücken des Gabenverteilers, reckten die Hälse, um das Auspacken besser verfolgen zu können. Sie flüsterten sich Mutmaßungen zu, bis Sophie ihr Geschenk endlich aus dem Weihnachtspapier geschält hatte. Sophie betrachtete fasziniert die Vorderseite der rechteckigen Schachtel, die sie in ihren Händen hielt. Sehr zum Unwillen der Adelshäupter, denen nur ein weißer Schachtelboden entgegenglänzte. Endlich hob Sophie den Blick, musterte den Weihnachtsmann und die vier Adelshäupter, dann bahnte sich ein Strahlen Platz und sie drehte den Gemusterten die Vorderseite der Schachtel zu.

„Toll, ein Puzzle – mit euch!”

Die Abbildung zeigt vier bis zu den Hälsen im Schnee versunkene Rentiere (eines davon mit einer entzückenden Hutkreation bestückt) und einen vergnügt strahlenden Weihnachtsmann auf dem Kutschbock mit einem Berg Geschenke hinter sich, der von einem heiteren, blonden Lockenkopf überragt wurde.

„Voll aus dem echten Leben, der Chef thront auf seinem Sitz, während uns der Schnee bis zu den Hälsen steht!” Lady Edelgunde und die Queen drängelten sich am Chef vorbei. „Wir helfen dir Sophie, bei so viel Schneeteilen brauchst du sicher Unterstützung.”

„Super”, jubelte Sophie, die inzwischen alle Schüchternheit abgelegt hatte, sich zu den beiden adeligen Grazien auf den Boden legte und die Steine des Puzzles zwischen ihnen ausschüttete. In den Augen von Queen und Lady blitzte sportlicher Ehrgeiz auf.


„Das ist Sophies Puzzle."

„Keine Sorge, Chef”, strahlte Sophie den Weihnachtsmann an, „Ich wette, ich kann's mindestens so gut wie ...?”

„Du kannst uns einfach Queen und Lady nennen”, beschied die Queen großmütig. „Kannst du mir gerade mal das Eckstück dort rüberreichen?”

Das Christkind hatte es sich auf der Eckbank bequem gemacht und stimmte ein fröhliches Weihnachtslied an, um dem Gesamten, so ohne Lichterbaum, doch ein wenig Festgepräge zu verleihen. Sophie fiel vergnügt ein. In einer Gesangspause wühlte sich eine von Sophies Händen unter eine der Huf-Hände von Edelgunde und kramte dort einen Puzzlestein hervor. In ihren bayerischen Dialekt verfallend bemerkte Sophie:

„Betrogn werd fei ned!”

Durchschaut und brutal entlarvt, errötete die Lady so stark, dass sich selbst das Fell ihrer Wangenpartie verfärbte – hatte sie sich doch unauffällig den Triumph des letzten Steins gesichert.


Inzwischen hatte es auch der Michi geschafft, sein großes Paket aus dem Geschenkpapier zu lösen.

„Wow – eine Autorennbahn, genau so eine, wie ich sie mir gewünscht hatte!”

„Garantiert aus dem letzten Regal!” Die männlichen Adelshäupter brachen in backfischhaftes Gekicher aus. „Du gestattest, Chef, das ruft nach einem Expertenteam!”

Der Weihnachtsmann fühlte sich ein weiteres Mal verschoben, während seine leeren Hände hilflos auf- und zuklappten. Nach kurzem Zögern zog er sich einen Stuhl vom Küchentisch heran und versah das Expertenteam mit jeder Menge guter Ratschläge beim Aufbau der Bahn. Schließlich standen die beiden im Set enthaltenen Renner auf der Start-Ziel-Linie.

„Wer mag zuerst gegen mich antreten?” Michi blickte fragend in die Männerrunde.

„Bitte, lieber King, Alter vor Schöhnheit.” Der Sir war ganz Jovialität.

„Können vor Wollen.”, konterte der King, während er sich eines der beiden Fahrreglers bemächtigte und in komplette Konzentration abtauchte.

„Auf fünf Runden. Ich zähle bis drei.”

Nach dem Countdown schwoll das dem Weihnachtsmann noch so vertraute, hässliche Surren spontan von 0 auf 100, ein Kopf-an-Kopf-Rennen entwickelte sich bis Mitte der vierten Runde. Dann hatte sich Michis Wagen eine halbe Fahrzeuglänge Vorsprung erfahren, der King verlor die Nerven, beschleunigte seinen Boliden hemmungslos, der sich Sekundenbruchteile später unter der Eckback entschleunigte.

„Aussitragn!” jubilierte Michi, während er sich auf der Ehrenrunde von imaginären Tiffosi feiern ließ. „Jetzt der Sir!”

„Nach dieser amateurhaften Vorstellung, wird's Zeit für einen echten Champ!” nickte dieser.

Michi hatte alle Mühe seinen Wagen auf gleicher Höhe mit dem des Sirs zu halten. Bis zu seiner letzten Innenkurve. Da regelte der Michi kurz auf Vollgas hoch. Sein Renner brach hinten aus und versetzte dem Fahrzeug des Sirs einen herzhaften Schlag, der es aus der Bahn katapultierte.

„Spitzenposition ausgebaut, zweiter Sieg im zweiten Rennen! Es zeigt sich erneut die haushohe fahrerische Überlegenheit des Gschwendtnerstalls in der neuen Saison!”

„Unter Adelshäuptern ist man solch unsportliches Verhalten nicht gewohnt. Ich werde Einspruch bei der Rennkommission einlegen. Ohne dieses grobe Foul hätte ich das Rennen jedenfalls gewonnen, schließlich lag mein Wagen vorn.”

Was der Michi mit einem Schulterzucken und der alten bayerischen Weisheit kommentierte: „Ahfangs gwenna, g'hört de Henna! Und jetzt der Weihnachtsmann!”

„Wie üblich: Das beziehungsweise der Beste zum Schluss!”

Die beiden männlichen Adelshäupter rissen die Augen auf: Der Weihnachtsmann musste die letzten Jahre heimlich geübt haben – eingangs der letzten Runde sah es nach einem überlegen herausgefahrenen Start-Ziel-Sieg für den Chef aus, der seinen Renner mit unfassbarer Brillanz durch die Kurven brachte und Michi keine Chance ließ.

„Wenn ich nicht wüsste, dass der Chef das psychisch nicht durchthält, würde ich glatt auf ihn setzen.”, raunte der Sir, der vor niederen Neidgefühlen ganz weiße Nüstern zeigte, dem King lautstark zu. „Aber in der nächsten Kurve macht er sicher wieder einen so eklatanten Fahrfehler, wie damals, als er die Schlittenkufe zerlegte.”

Das Gesicht des Chefs wurde von einer Blutwoge überspült.

„Das war jetzt schon etwas unter der Gürtellinie.”, kommentierte der King wohlwollend, als der Wagen des Weihnachtsmanns seine Überschläge am Ende der Zielkurve ziemlich genau an der Stelle beendete, an der auch die Träume des Kings zerschollen waren.

„So viel zum sportlichen Ethos des neuzeitlichen Adels.” Es kostete den Weihnachtsmann alle Beherrschung, es bei dieser Bemerkung zu belassen.


Zum Glück lenkte Sophie die Aufmerksamkeit in dieser prekären Situation auf sich:

„Probier mal den – der Trachtenhut von meiner Mama!”

Die drei Damen hatten ihr Puzzle beendet und nach vielen kritischen Blicken auf das, was sich auf dem Kopf der Queen befand, war Sophie ins Schlafzimmer der Eltern gelaufen, dort auf einen Stuhl gestiegen und hatte den Hut, auf Zehenspitzen stehend, vom Haken geangelt. Die Queen legte ihre Kreation auf einen freien Platz im Tellerbord und drückte den Hut vorsichtig zwischen ihre Geweihstangen. Mangels eines Spiegels in der Wohnküche, ließ sie den Blick fragend zwischen den anderen Adelshäuptern und dem Chef kreisen, die wortlos nickten. Nur der Michi zeigte sich einer beeindruckten Antwort fähig:

„Geil – schad, dass dir Mamas Tracht net passt.”

„Sag du was, Kindl!”, fuhr die Queen unwirsch das Christkind an.

„Pssst!”, sagte dieses und hielt seinen Zeigefinger an die Lippen. „Ich glaube, ich höre was – ja, eindeutig. Das kann nur der Wagen eurer Eltern sein. Ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen.”

Der Weihnachtsmann warf einen Blick auf die alte Wanduhr mit den Tannzapfengewichten: „Halb acht schon, das schaffe ich ja nie mehr!”

Du schaffst das, lieber Weihnachtsmann.”

Sophie und Michi fühlten plötzlich eine unüberwindbare Müdigkeit in sich aufsteigen. Das Christkind sagte zum Weihnachtsmann: „Leg sie vorsichtig auf die Bank – sie werden ihren Eltern gleich einen wunderbaren Traum erzählen.”


Die Adelshäupter fühlten sich auf ebenso unüberwindbare Weise aus dem Haus vor den Schlitten gedrängt und eingespannt; die ausgepackten Geschenke waren aus der Küche verschwunden und lagen vermutlich unberührt unter dem Baum, der Weihnachtsmann fand sich unversehens auf seinem Kutschbock wieder.

„Na, dann wollen wir mal die Fliege machen”, ertönte es hinter ihm. Erstes Scheinwerferlicht eines schwer arbeitenden Wagens irrte in den Zweigen der Bäume hin und her, den letzten Kurven zum Haus folgend. Der Weihnachtsschlitten erhob sich zu himmlischem Flug, ein nervöser Chef versuchte sinnlos, seine Adelshäupter zu schnellerer Gangart anzutreiben.

„Entspann dich, lieber Weihnachtsmann, ich habe einige Geschenke bereits ausgeliefert, während die Madel und die Buam so schön gespielt haben.”

Ein plötzlicher Aufschrei zerstörte die Idylle:

„Der Hut, ich habe noch den Hut von Sophies Mama auf! Mein eigener liegt im Tellerbord.”

„Na, auch das wird sich am heutigen Abend regeln lassen. Dabei steht dir der Trachtenhut wirklich einmalig.”, meinte das Christkind ambivalent.

Das Kindl schickte sich an, den Hutaustausch zu initiieren, wurde jedoch von einem zweiten Aufschrei der Queen gebremst:

„Halt, erst ein Foto! Wenn er mir wirklich so entzückend steht, wie du meinst, kommt er nächstes Jahr auf meinen Wunschzettel!”

Text: ©Kili Riethmayer


Für den Fall, dass Ihnen die Episode Spaß gemacht hat, finden sind die Adelshäupter, den Weihnachtsmann und das Kindl unter den nachstehenden Links:
Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010), Schöne Bescherung (2011), Die Überraschung (2012), Das Weihnachtsessen (2013), Aushilfskräfte (2014), Der Herzenswunsch (2015), Der Herzenswunsch (2015), Die Panne (2016) (Teil 1), Die Panne (2016) (Teil 2), Glühwein (2017) (Teil 1), Glühwein (2017) (Teil 2), Entzückend! (2018) (Teil 1), Entzückend! (2018) (Teil 2), Freue dich! (2019) (Teil 1)

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