Vorbemerkung: Sie kommen so langsam in die Jahre – aber eigentlich sind sie ja alterslos: Das Kindl, der Weihnachtsmann und seine vier Schlittentiere, die Adelshäupter, die in diesem Jahr alle wieder vereint sind. Für diejenigen, die das Sextett noch nicht kennen, sind am Seitenende Verweise auf ihre früheren Auftritte in LEOs Adventskalender aufgeführt.
Auch wenn er nicht der treffsicherste im Fach Gesang war, so handelte es sich bei dem, was Sir Quirin vor sich hinträllerte, unzweideutig um ,Leise rieselt der Schnee'. Der Galgenhumor bei der Liederwahl kam nicht bei allen Begleitern des Weihnachtsschlittens gleich gut an. Von einem irgendwo gebetteten stillen und starren See hätte auch das schärfste Adlerauge seit langem keine Andeutung mehr ausmachen können, mit jeder Minute mussten sich die Adelshäupter mächtiger ins Zeug legen, um den noch fast vollbepackten Schlitten durchs bayerische Oberland vorwärts zu wuchten. Auf Grund der Wettervorhersage hatte der Weihnachtsmann das Oberland dieses Jahr an den Anfang der Ausfahrt gesetzt, um noch einigermaßen durchzukommen. Die ,ergiebigen Schneefälle im Stau des Alpennordkamms' erwiesen sich immer mehr als eine grandiose Untertreibung. Im Abenddämmer begannen die Nadelbäume übergangslos mit dem Erdboden zu verwachsen. Auch für schwer beladene Schlittengespanne, nicht nur für den motorisierten Verkehr, kam es zu erheblichen Behinderungen. Die Stangen, die den Weg hinauf zum Gschwendtner-Berghof als Markierung einfassten, hatten schon deutlich an sichtbarer Höhe eingebüßt, die Adelshäupter steckten bei jedem Schritt bis zum Bauch im Schnee, die Ladefläche des Schlittens begann an der weißen Flut zu streifen.
„Davon war damals in der Stellenaussschreibung mit keinem Wort die Rede.”, murrte der King.
„Mit ,freie Kost und Logis gegen Mithilfe auf gepflegtem Landgut für gut abgestimmtes Rentier-Gespann', wurde gelockt.”, ergänzte schnaufend die Queen.
„,Sommer voller Wellness gegen weihnachtliche Schlittenfahrten zu den stimmungsvollsten Plätzen der Erde', hieß es.”, fiel Lady Edelgunde ein.
„Moment mal”, unterbrach der Weihnachtsmann den Protestfluss, „in der Anzeige stand ,zugkräftigsten', nicht ,stimmungsvollsten'. Und ihr könnt nicht leugnen, dass wir uns auf dem Weg zu einem der derzeit zugkräftigsten – natürlich auch stimmungsvollsten – Plätzen der Alpenregion befinden. Man muss halt Anzeigen auch ein wenig interpretieren können.”
„Klare Fanganzeige also, wie der Chef hier erstmals gesteht. Tiefer geht's moralisch wohl kaum.”
„Sicher löst sich meine neue Fest-Kreation bereits unter der feuchten Masse auf.”
„Im Gegenteil”, meinte Sir Quirin Richtung Queen. „Dein entzückender Weihnachtsturm von Pisa dürfte inzwischen die stattliche Höhe von einem halben Meter erreicht haben.”
Er konnte es einfach nicht lassen, auch wenn er wusste, dass ihm dafür ein weiterer Hagel eisiger Blitze zuteil werden würde. Der Weihnachtsmann schickte einen flehentlichen Blick zurück zum Kindl, das den Weihnachtsmann mit einem himmlischen Lächeln versah. Schulterzuckend wandte er den Kopf wieder nach vorn. Doch bevor er sich der Hoffnungslosigkeit über die total verfahrene Situation widmen konnte, tat sich im dichten Wolkengebilde ein Loch auf, durch das der Vollmond seine Strahlen auf den Schlitten und die ihn umgebende Zauberlandschaft sandte. Die mächtige Schneelast auf den Bäumen und den Hügeln strahlte hell auf, die Flocken verklärten sich zu funkensprühenden Kristallen, während das Christkind das abgebrochene Gebrummel Sir Quirins mit seiner weichen, klaren Stimme zum Abschluss brachte:
Weihnachtlich glänzet der Wald,
Freue dich, 's Christkind kommt bald.”
Das Schauspiel war so traumhaft schön, das die Adelshäupter für einige Schritte die Mühen vergaßen, die im krassen Kontrast zu den Verheißungen der Annonce standen. Die vier wandten ihre Köpfe zum Christkind um, ihr Blick strahlte eine derartige Bewunderung aus, dass er schon etwas Naiv-Dümmliches an sich hatte. Die vier zuckten unter einem hellen Blitz zusammen.
„Ein Bild für die Ewigkeit”, jubelte der Weihnachstmann, der zum letzten Weihnachtsfest das ultimative Smartphone geschenkt bekommen hatte. Meist war es nicht geladen oder es lag an unerreichbarer Stelle, aber für die Ausfahrt hatte der Weihnachtsmann sich erfolgreich konzentriert. Eigentlich hatte er es aus den Tiefen seines Mantels gekramt, um das Chistkindl-Wunder festzuhalten, aber dann waren ihm die Adelshäupter praktisch ins Bild gelaufen. „Deine Hutwunder-Naturkreation – einfach umwerfend, liebe Queen. Nur leider nichts für Vitrine und Ewigkeit. Um so wichtiger, dass sie im Bild festgehalten ist. Ich zeig's euch zu Hause. Ich glaub, ich vergrößere das Bild und häng es in meinem Zimmer auf.”
Die Adelshäupter hatten nach dem „blendenden” Einfall des Weihnachtsmanns ihre Sehkraft zurückerlangt und richteten ihren Blick griesgrämig wieder nach vorn. Auf wundersame Weise war der Gschwendtnerhof näher gerückt, zwei mühsame Schritte noch, dann hatte das Gespann die ebene Auffahrtfläche erreicht. Auch hier lag der Schnee hoch und unberührt, niemand hatte sich in den letzten Stunden ums Räumen gekümmert. Seltsam war das schon, denn zwischen den zugezogenen Vorhängen des Fensters neben der Eingangstür fiel ein schmaler Lichtstreifen auf das Weiß. Zu Hause war also jemand. Nun, vielleicht waren die Weihnachtsbäckereien nicht fertig geworden oder es gab anderes Fest-Wichtigeres als dem Weihnachtsschlitten den Boden zu bereiten. Das Christkind reichte dem vom Schlitten gestiegenen, tief im Schnee einsinkenden Weihnachtsmann die Geschenke herab.
„Mach bitte schnell, mich dürstet nach wärmeren und schneeärmeren Regionen.”, bettelte Lady Edelgunde.
Ein Wunsch, dem leicht nachzukommen war, denn nach dem Fiasko mit dem Schlitten im Schlot hatten sich der Weihnachtsmann und das Kindl auf ein vereinfachtes Ritual geeinigt: Der Weihnachtsmann war mehr als glücklich, dass der Kaminrutsch nur noch vor seinem inneren Auge stattfand, er sich stattdessen unversehens mit den Geschenken im Sack im dunklen, warmen Bescherungszimmer wiederfand. Besonders die neueren Kamine mit den kleinen Durchmessern waren, zusammen mit der gut ausgebauten Taille des Weihnachtsmanns, immer mehr zur Qual geworden. Kritisch warf er einen letzten Blick aufs Arrangement der Gaben und wollte gerade eine telepathische Rückholaktion ans Christkind senden, als er durch die Tür des Bescherungszimmers herzzerreißendes Kinderschluchzen vernahm.
„Ach je, da ist aber jemand an Weihnachten unglücklich!”, brummelte er in seinen Bart. Er ließ sich vom Christkind ins Freie befördern, vertröstete die Lady mit „gleich”, stapfte zu dem Lichtschimmer, der sich durch die Vorhänge drängte, warf vorsichtig einen Blick ins dahinter liegende Zimmer und auf die sich ihm bietende, Mitleid erregende Szene. Ein Junge, dem selbst die Tränen über die Wangen kullerten, hielt seine kleine, heftig schluchzende Schwester im Arm. ,Die Sophie und der Michi – aber keine Spur von den Eltern'. Der Weihnachtsmann ließ das ungeduldige Schnauben der Adelshäupter an seinem breiten Rücken abprallen, er konnte die beiden Kinder nicht in ihrem Unglück sitzen lassen. Er stapfte zur Tür und läutete. Füße trappelten eilig heran, dann flog die Türe auf.
„Endlich, wo ...”
Dann wäre die Tür wieder ins Schloss geflogen, hätte das der Weihnachtsmann nicht mit seinem dicken Stiefel verhindert. Statt der Eltern stand ein Wildfremder in der zurückschwingenden Tür! In den weit aufgerissenen Augen mischten sich die kurz versiegten Tränen mit Erschrecken.
„Ihr müsst doch keine Angst vor mir haben, ich bin's, der Weihnachtsmann! Gerade habe ich eure Geschenke unter den Baum gelegt.” Die Stimme des Weihnachtsmannes war Güte und Vertrauenswerbung.
„Wie ... wie bist du denn hier heraufgekommen, wo's nicht mal die Eltern geschafft haben, mit ihrem Vierrad-Antrieb.” Während Sophie sich hinter Michi versteckt hielt, hatte dieser den ersten Schock, nicht aber ein tief sitzendes Misstrauen überwunden.
Der Weihnachtsmann hob zu einer weise belehrenden Antwort an: „Tja, für alle Wetterbedingungen gibt's optimale Verkehrsmittell und vier Rentierstärken bewirken ab und an mehr als ein paar hundert Pferdestärken.” Sanft, aber unnachgiebig fühlte sich der Weihnachtsmann von vier RTS in den Flur geschoben.
„Aber, wie, woher, warum ...”, stammelte dieser.
„Lady Edelgundes Strähnchen begannen sich aufzulösen.”, verkündigte eine glockenhelle Stimme.
Sophie, die vorsichtig hinter ihrem Bruder vorlugte, sah, dass die helle Stimme einem blond gelockten Wesen (vielleicht einem Engel?) gehörte, das sich mit einiger Mühe am die Breite des Flurs komplett ausschöpfenden Weihnachtsmann vorbeigedrängt hatte.
(Fortsetzung im morgigen Türchen)
Text: ©Kili Riethmayer
Für den Fall, dass Ihnen die Episode Spaß gemacht hat, finden sind
die Adelshäupter, den Weihnachtsmann und das Kindl unter den
nachstehenden Links:
Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010),
Schöne Bescherung (2011),
Die Überraschung (2012),
Das Weihnachtsessen (2013),
Aushilfskräfte (2014),
Der Herzenswunsch (2015),
Die Panne (2016) (Teil 1),
Die Panne (2016) (Teil 2),
Glühwein (2017) (Teil 1),
Glühwein (2017) (Teil 2),
Entzückend! (2018) (Teil 1),
Entzückend! (2018) (Teil 2)