LEO

16. Dezember ­2018

Fortsetzung von gestern

„War's schön mit Steffen?”, hatte das Kindl am kommenden Morgen leise den sichtlich verkaterten Weihnachtsmann angesprochen. Sein Nicken zog eine schmerzliche Grimasse nach sich. Woher wusste das Kindl, dass er Steffen getroffen hatte und dieses Treffen die Ursache für seinen derzeitigen Zustand war? In seinem nur vorsichtig einsetzbaren Denkapparat bildete sich der Verdacht, dass das Treffen mit Steffen vielleicht nicht auf reinem Zufall beruht hatte, sondern vom Christkind als Therapiemaßnahme gegen den ungeheuren Stress herbeigeführt worden war.
„Der Wagen ...?”
„... hat seinen Weg per Autopilot heim gefunden. Leg dich noch ein wenig hin, wird schon alles rechtzeitig fertig.”
„Danke.” Die Unterstützung der natürlichen menschlichen Schwächen durch übernatürliche himmlische Stärken ließ eine vorsichtig dosierte Dankbarkeitswallung im Weihnachtsmann aufsteigen: Wie schön, dass alles rechtzeitig fertig würde! Was es schließlich auch tat.


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Die Ausfahrt war beendet, der Schnee abgeschüttelt, die Neugier greifbar.
„Dieses Mal darfst du zuerst.” Der Weihnachtsmann schob die Queen auf die Tür des Bescherungszimmers zu. Und da standen die beiden. Ein verdutzter Gesichtsausdruck machte sich unübersehbar bei ihnen breit, als weder die Glocke hinter, noch das Drehen des Schlüssels in der Tür ertönte.
„Überraschung!”, röhrten King, Lady und Sir fröhlich und lenkten die Queen auf ihr eigenes Zimmer um. Aus dem die Glocke ertönte, in dessen Türschloss sich quietschend der Schlüssel drehte. Lady Edelgunde stieß die Tür auf und schob die Queen sanft ins Zimmer.
„Alter ...”, fügte sie mit dem liebenswürdigsten aller Lächeln hinzu. Die Queen hielt abrupt dem Drängen der Männer stand und wandte ihren Kopf so ruckartig der Lady zu, wie es das sensible Hutwunder auf ihrem Haupt zuließ.
„... Verdienst und Würde zuerst.” Es lag ein anhimmelndes Schmachten in den Augen von Lady Edelgunde, wie es nur die Kugelaugen des weiblichen Rentier-Hochadels hervorzubringen vermögen.
Die Kerzen des Weihnachtsbaums blendeten die Augen der Queen. Doch dann, nach kurzem Blinzeln, zog eine Vitrinenkreation ihre Blicke in den Bann, die die nördliche Seitenwand luftig ausfüllte und deren Deko in mehr Farben funkelte, als sie der Regenbogen bereithält. Sämtlicher Zierrat, den der Weihnachtsmann besorgt hatte, war vom Kindl auf den Profilleisten aufgebracht worden, die wenigen Hutständer-Weihnachtsmänner, die nicht von Entzücklichkeiten bedeckt waren, verbanden sich mit Letzteren zu einem quasi überirdischen Kunstwerk. Die Mitte der Vitrine bildete ein Neo-Renaissancespiegel, dessen Größe auch einem sowohl behüteten als auch geweihten Adels-Haupt gewachsen war, und darunter gierte ein goldbetuchter Bischof ganz offenkundig nach einer neuen Kopfbedeckung.
„Für meine neue, ab-so-lut ultimative Kreation?” Die Queen deutete auf den sparsam bemützten Bischof. Die Schenkenden nickten synchron. „Es ist ... es ist das schönste Geschenk, das ihr mir je gemacht habt.”
„Das achte Weltwunder. Das Weltwunder des Geschmacks.” Lady Edelgunde betupfte ihre feuchten Augen.
„Wie konntest du nur so eine Monstrosität herstellen?”, flüsterte der Weihnachtsmann dem Kindl ins Ohr.
„Oh, das war überhaupt kein Problem”, antwortete das Kindl unschuldig. „Plan und Materialien waren ja vorgegeben, hast du nicht selbst alles besorgt? Ich finde die Vitrine in ihrer Art durchaus einmalig. Vielleicht hast du nur einen zu proletischen Geschmack?”

Mitten in die Schwärmereien der Adelshäupter mischte sich ein verheißungsvoller Duft aus der Küche.
„Zu Tisch, zu Tisch, liebe Adelshäupter, sonst wird die Ente schwarz. Die restlichen Geschenke müssen bis nach dem Essen warten.”
Wie üblich nahmen das Kindl und der Weihnachtsmann die Schmalseiten des Tisches ein, die Adelshäupter nahmen nach „katholischer” Sitzordnung Platz, Männlein auf der einen, Weiblein auf der anderen Breitseite. Der Weihnachtsmann trug die Schüsseln und Platten mit Ente, Preiselbeeren, Birnen, Knödeln und Kraut herein, das Kindl verteilte die Köstlichkeiten auf die Teller.
„Und für dich als Vegetarierin, liebe Queen, ein federleichtes, raffiniert gewürztes Austernpilze-Gratin.” Das Kindl konnte es sich nicht verkneifen, das federleichte Gratin aus der Küche hereinschweben und auf dem Teller der Queen landen zu lassen.
„Wie im Schlaraffenland”, seufzte King Irenäus beglückt.
„Mag sein. Aber nicht wie im Paradies.” Lady Edelgunde schob ein weiteres Mal mäßig unauffällig Teile der Internetkreation beiseite, die bei jeder Kopfbewegung der Queen über Edelgundes Ohren, Nase oder Augen strichen. „Meinst du nicht, die Vitrine würde noch phantastischer aussehen”, wandte sie sich an die Queen, „wenn dein neuestes Kunstwerk die Lücke füllte?”
„Wie recht du hast, Edelgunde”, pflichtete die Queen ihr wehmutsvoll bei. „Aber Quirin hat sich so sehr gewünscht, dass ich sie zum Weihnachtsessen trage. Nach dem Essen dann.”
Lady Edelgunde warf dem Sir einen giftigen Blick zu.
„Ist dir was, Liebe? Du solltest nicht so verspannt dreinblicken, Edelgunde, das wirkt unvorteilhaft, macht dich älter. Köstlich übrigens, dein Essen, lieber Weihnachtsmann.” Sir Quirin tupfte sich hingebungsvoll den Mund ab, sein breites Grinsen damit lediglich betonend.
Das Kindl und der Weihnachtsmann hatten alle, sozusagen, Münder voll zu tun, das Essensgespräch in friedliche Bahnen zu lenken. Doch schließlich taten Ente, Knödel, Blaukraut und Gratin ihre Wirkung, genüssliches Loben ging in genüssliches Stöhnen über. Das Kindl griff in seine Wolke und zog das Geschenk für den Weihnachtsmann daraus hervor:
„Nochmals ein schönes Weihnachtsfest, lieber Weihnachtsmann — ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen, an dem du es auspacken solltest.”
Der Weihnachtsmann löste vorsichtig die Klebestreifen (das Papier ließ sich schließlich im kommenden Jahr wieder verwenden) des schweren Päckchens.
„Gigantisch — das richtige Geschenk zum richtigen Zeitpunkt! Eine wunderschöne Flasche mit einem sicher wunderbaren Inhalt”, strahlte der Weihnachtsmann, als er die Flasche Williamsgeist aus der sie beherbergenden Schachtel entnahm. „Und dazu vier Adelshäuptergläser, einen Weihnachtsmannhumpen und ein kleines Wolkenglas. Du auch?!”, staunte der Weihnachtsmann das Kindl an.
„Die Ente”, meinte das Kindl entschuldigend. Fast hätte man meinen können, sein Gesicht hätte eine zarte Rosé-Färbung angenommen.

Text: ©Kili Riethmayer
Bild: ©Doris Lettmann

Für den Fall, dass Ihnen die Episode Spaß gemacht hat, finden sind die Adelshäupter, den Weihnachtsmann und das Kindl unter den nachstehenden Links:
Eine denkwürdige Schlittenfahrt (2010), Schöne Bescherung (2011), Die Überraschung (2012), Das Weihnachtsessen (2013), Aushilfskräfte (2014), Der Herzenswunsch (2015), Die Panne (2016) (Teil 1), Die Panne (2016) (Teil 2), Glühwein (2017) (Teil 1), Glühwein (2017) (Teil 2), Entzückend! (2018) (Teil 1)

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